Die 1950er und 1960er Jahre: Vom Fürsorgeprinzip zu ersten Ansätzen der Teilhabe
Die Ausgangslage in der Nachkriegszeit
In der unmittelbaren Nachkriegszeit dominierte ein medizinisches Modell von Behinderung, das Menschen mit Einschränkungen primär als „pflegebedürftig“ und „unproduktiv“ betrachtete. Bis Ende der 1950er Jahre existierten kaum schulische Angebote für geistig behinderte Kinder, da der Bildungsbegriff strikt an Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben geknüpft war. Parallel dazu basierte die staatliche Unterstützung auf dem Fürsorgeprinzip des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes von 1924, das Hilfeleistungen an Bedürftigkeit statt an individuelle Rechte band.
Gründung der Lebenshilfe und erste bildungspolitische Initiativen
Die 1958 gegründete Bundesvereinigung Lebenshilfe setzte hier einen Gegenakzent, indem sie 1960 eine Denkschrift zur Bildungsfähigkeit geistig behinderter Menschen veröffentlichte. Dieser Text argumentierte, dass Bildung nicht auf kognitive Fähigkeiten reduziert werden dürfe, sondern auch lebenspraktische und motorische Förderung umfassen müsse. Die daraus resultierenden Tagesbildungsstätten schufen erstmals institutionalisierte Lernräume jenseits der Sonderheime. Allerdings blieben diese Einrichtungen außerhalb des staatlichen Schulsystems, was ihre gesellschaftliche Anerkennung limitierte.
Das Bundessozialhilfegesetz von 1962
Ein legislativer Durchbruch gelang mit dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG), das am 1. Juni 1962 in Kraft trat. Es ersetzte das Fürsorgeprinzip durch einen Rechtsanspruch auf Eingliederungshilfe, der nicht mehr an finanzielle Bedürftigkeit geknüpft war. Damit wurde erstmals die Idee verankert, dass Unterstützung keine Almosen, sondern eine staatliche Pflichtleistung darstellt. Die Novellierung von 1974 führte einen einheitlichen Behindertenbegriff ein und erweiterte die Ansprüche auf Hilfen zur Pflege.
Differenzen zwischen BRD und DDR
Während die BRD zunächst kriegsbedingte Behinderungen in den Fokus nahm, setzte die DDR auf die Integration behinderter Menschen in den Arbeitsmarkt. Das 1953 verabschiedete „Gesetz über die Beschäftigung Schwerbehinderter“ zielte darauf ab, deren Arbeitskraft im sozialistischen Wirtschaftssystem nutzbar zu machen. Allerdings blieben beide Staaten in dieser Phase hinter einer umfassenden Gleichstellungsperspektive zurück, da Teilhabe primär unter produktivistischen Gesichtspunkten betrachtet wurde.
Die 1970er und 1980er Jahre: Aufbruch der Behindertenbewegung
Paradigmenwechsel durch die Behindertenrechtsbewegung
Die 1970er Jahre markierten einen Umbruch, als Aktivist:innen wie Ernst Klee und Gusti Steiner begannen, Behindertenpolitik aus der Betroffenenperspektive zu gestalten. Durch Volkshochschulkurse und öffentliche Aktionen thematisierten sie alltägliche Diskriminierungen und forderten „Bewältigung der Umwelt“ statt Anpassung des Individuums. Dieser Ansatz legte den Grundstein für das soziales Modell von Behinderung, das Barrieren in der Umwelt – nicht die Beeinträchtigung selbst – als Ursache von Benachteiligung identifiziert.
Reform des Schwerbehindertengesetzes 1974
Die gesetzliche Verankerung dieses Wandels erfolgte 1974 durch eine Novelle des Schwerbehindertengesetzes, die erstmals Unterstützungsleistungen unabhängig von der Ursache der Behinderung gewährte. Diese Entkopplung von moralischen Zuschreibungen (z.B. „Kriegsopfer“ vs. „geboren behindert“) war ein Schritt zur Entstigmatisierung.
Das UN-Jahr der Behinderten 1981
Internationale Impulse erhielt die Bewegung durch das UN-Jahr der Behinderten 1981, das in Deutschland zu einer Welle von Aufklärungskampagnen führte. Lokale Gruppen nutzten die Aufmerksamkeit, um Forderungen nach barrierefreiem Wohnraum, Arbeitsmarktzugang und politischer Partizipation zu artikulieren. Allerdings kritisierten Aktivist:innen, dass viele Maßnahmen symbolisch blieben und strukturelle Ungleichheiten unangetastet ließen.
Die 1990er Jahre: Verfassungsrechtliche Meilensteine und die Pflegeversicherung
Die Grundgesetzänderung von 1994
Ein historischer Höhepunkt war die Ergänzung von Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz im Jahr 1994, die feststellte: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“. Dieser Verfassungsauftrag resultierte direkt aus jahrzehntelangen Kämpfen der Behindertenbewegung und schuf eine klare rechtliche Grundlage für Antidiskriminierungsklagen. Parallel dazu reformierte die Bundesregierung das Ehe- und Familienrecht, um tradierte Rollenbilder in der Pflege aufzubrechen.
Einführung der Pflegeversicherung 1995
Mit der Pflegeversicherung als fünfter Säule des Sozialversicherungssystems wurde 1995 erstmals das Risiko der Pflegebedürftigkeit kollektiv abgesichert. Das paritätisch finanzierte Modell sah Leistungen für häusliche Pflegehilfen und Pflegegeld vor, um die finanzielle Belastung von Familien zu mindern. Allerdings wurde der Arbeitgeberanteil durch die Streichung des Buß- und Bettags kompensiert – ein Kompromiss, der langfristig zu Unterfinanzierungsproblemen führte.
Ambivalenzen der Pflegereform
Trotz ihrer Fortschritte perpetuierte die Pflegeversicherung geschlechtsspezifische Ungleichheiten, da 80% der informellen Pflegearbeit von Frauen übernommen wurde. Die fehlende Anerkennung dieser Care-Arbeit im Rentensystem trieb viele Pflegende – insbesondere Frauen – in die Altersarmut, ein Problem, das bis heute nicht gelöst ist.
Die 2000er Jahre bis heute: Von der Integration zur Inklusion
Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention 2009
Die Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) markierte 2009 den Übergang vom Integrations- zum Inklusionsparadigma. Anders als die Integration, die Anpassung der Betroffenen voraussetzt, zielt Inklusion auf den Abbau struktureller Barrieren in allen Gesellschaftsbereichen. Deutschland verpflichtete sich damit, ein „inklusive[s] Bildungssystem auf allen Ebenen“ zu schaffen – eine Aufgabe, die insbesondere im Schulwesen noch unvollendet ist.
Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) 2016–2023
Das in vier Stufen bis 2023 umgesetzte BTHG sollte die Eingliederungshilfe aus der Sozialhilfe lösen und zu einem modernen Teilhaberecht weiterentwickeln. Kerninnovationen waren das Wunsch- und Wahlrecht bei Unterstützungsleistungen sowie die Stärkung der Einkommens- und Vermögensfreibeträge. Kritiker:innen monierten jedoch, dass das Gesetz zentrale Forderungen der Behindertenbewegung verfehlte, etwa durch die Aufweichung des „ambulant vor stationär“-Prinzips.
Und jetzt: Aktuelle Herausforderungen
Trotz dieser Entwicklungen bestehen strukturelle Probleme fort: Die Arbeitslosenquote unter Schwerbehinderten liegt mit 11,4% (2023) deutlich über dem Durchschnitt, und nur 43% der Kommunen haben bislang Aktionspläne zur Barrierefreiheit umgesetzt. Zudem zeigt die Pandemieerfahrung, dass Krisenmaßnahmen die Bedürfnisse behinderter Menschen häufig ignorieren – etwa durch unzugängliche Impfzentren oder den Ausschluss von Triage-Entscheidungen.
Schlussbetrachtung
Der Weg von der verwahrenden Fürsorge der 1950er Jahre zum modernen Teilhaberecht war geprägt durch das Wechselspiel zivilgesellschaftlicher Mobilisierung und legislativer Reformen. Während Meilensteine wie die Grundgesetzänderung oder die UN-BRK global richtungsweisend sind, offenbart die Praxis Lücken zwischen rechtlichem Anspruch und gelebter Inklusion. Die ungelöste Finanzierung der Pflegeversicherung, die Prekarität informeller Care-Arbeit und der langsame Ausbau inklusiver Bildungsangebote zeigen, dass Gleichstellung kein abgeschlossenes Projekt, sondern ein kontinuierlicher Aushandlungsprozess ist. Angesichts des demografischen Wandels und sich wandelnder Familienstrukturen wird die Frage, wie Gesellschaften Pflegebedarf solidarisch organisieren und Barrieren konsequent abbauen, zur Nagelprobe für die Zukunft des Sozialstaats.