Kritik an der Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes: Systemische Defizite und Reformbedarf

Veröffentlichung: 19.02.2025   Aktualisiert: 27.03.2025

Das Bundesteilhabegesetz (BTHG), seit 2016 in Kraft, sollte einen Paradigmenwechsel hin zu mehr Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderungen einleiten. Doch neun Jahre nach Verabschiedung offenbart die Umsetzungspraxis tiefgreifende strukturelle Probleme. Diese Analyse systematisiert die zentralen Kritikpunkte und zeigt Lösungswege auf.

Bürokratische Überlastung als Dauerproblem

Die Curacon-Studie belegt, dass 85% der Leistungserbringer das BTHG als „Bürokratiemonster“ wahrnehmen. Konkret bedeutet dies:

  • Mehrstufige Antragsverfahren: Bis zu 23 Einzelnachweise für Leistungsbeantragungen, darunter detaillierte sozialpädagogische Stellungnahmen und medizinische Gutachten.
  • Vertragsmanagement: Durchschnittlich 47 Seiten Vertragswerk pro Leistungsvereinbarung, dreimal umfangreicher als vor 2016.
  • Berichtspflichten: Monatliche Verlaufsdokumentationen in 78% der Eingliederungshilfe-Einrichtungen, oft ohne unmittelbaren Praxisbezug.

Personalkapazitäten und Digitalisierungsdefizite

Trotz des Digitalisierungsgebots nach § 7 SGB IX existieren in nur 12% der Jugendämter vollständig elektronische Akten. Der manuelle Aufwand frisst Ressourcen: 38 Wochenstunden pro 100 Klient:innen verbringen die Zuständigen mit Verwaltungstätigkeiten. Die Personalkosten sind gegenüber 2016 um 14% gestiegen.

Fragmentierte Zuständigkeiten und regionale Disparitäten

Das BTHG scheitert am deutschen Föderalismus:

  • Landesrahmenverträge: Nur 6 Bundesländer haben vollständige Verträge zur Leistungsvergütung abgeschlossen.
  • Finanzierungsstreit: Kommunen tragen 65% der Eingliederungshilfekosten, erhalten aber nur 40% der Umsatzsteueranteile.
  • Leistungsgefälle: Die Hilfequote variiert zwischen 23,4% (Bremen) und 8,9% (Bayern), bedingt durch unterschiedliche Bedarfsermittlungsverfahren.

Der §104-SGB-IX-Konflikt

Der Mehrkostenvorbehalt nach §104 Abs. 2 SGB IX ermöglicht Kostenträgern, teurere individuell gewünschte Leistungen abzulehnen. In der Praxis bedeutet das: 62% der Widersprüche gegen Bescheide betreffen diesen Paragrafen. Die durchschnittliche Verfahrensdauer beträgt 14 Monate.

Einkommensanrechnung als Teilhabebremse

Trotz Freibetragserhöhungen auf 25.000 € (2024) behindert die Anrechnungspraxis ökonomische Selbstständigkeit. Ein Absurdbeispiel zeigt: Eine Werkstattbeschäftigte mit 450-€-Job verliert 130 € durch die Anrechnung. Das Partnereinkommen ist ein weiteres Problem: 58% der Leistungsbeziehenden verzichten auf Partnerschaften aus Angst vor Anrechnungen.

Fachkräftemangel verschärft Versorgungslücken

79% der Einrichtungen kämpfen mit Personalmangel, besonders im pädagogischen Bereich (-31% Bewerber:innen seit 2020). Die Folge: 23% unbesetzte Stellen in Wohneinrichtungen und 14% Reduktion der ambulanten Angebote.

Umsetzungsdefizite trotz rechtlicher Vorgaben

Obwohl § 7 SGB IX digitale Barrierefreiheit vorschreibt, zeigen Monitoring-Studien: 68% der EUTB-Beratungsstellen sind ohne barrierefreie Videochat-Optionen unterwegs. Nur 9% der Leistungsbescheide sind in Leichter Sprache verfügbar.

Paradoxe Effekte der Assistenztechnologien: KI-gestützte Bedarfsermittlungstools führen zu Standardisierungseffekten: Es gibt 43% weniger individuelle Hilfepakete seit der Einführung algorithmischer Tools. Die Fehlerquote liegt bei 27%, wenn es um die Bearbeitung von automatisierten Bescheiden geht.

Reformvorschläge und Zukunftsszenarien

Expertenkommissionen empfehlen:

  1. Poolbudgets: Pauschalfinanzierung für Leistungskomplexe statt Einzelanträgen
  2. Dokumentationsobergrenzen: Maximal 20% der Arbeitszeit für Verwaltung
  3. Digitalisierungsoffensive: Bundesweite E-Akte bis 2026

Langfristig notwendig:

  • Bundeseinheitliche Bedarfsermittlung: Algorithmisch gestütztes ICF-basiertes Tool
  • Finanzausgleichsmechanismus: Kompensation kommunaler Mehrbelastungen
  • Reha-Kompetenzzentren: Trägerübergreifende Anlaufstellen in jedem Landkreis

Grundsatzdebatten stehen an:

  • Anrechnungsfreie Grundeinkommensmodelle: Pilotprojekte in Bremen und Leipzig
  • Inklusionsquote: 7% Beschäftigungsanteil in öffentlichen Betrieben
  • Partizipationsgremien: 51% Mitbestimmung von Betroffenen in Leistungsausschüssen

Fazit: BTHG als Dauerbaustelle

Die Kritik am BTHG offenbart fundamentale Systemkonflikte: Zwischen individuellen Rechten und budgetärer Restriktion, zwischen föderaler Vielfalt und einheitlichen Standards. Während die digitale Transformation Chancen bietet, droht sie bestehende Ungleichheiten zu zementieren. Die kommenden Jahre werden zeigen, ob der Gesetzgeber den Mut zu konsequenten Strukturreformen findet – oder das BTHG als Symbol unerfüllter Teilhabeversprechen in die Geschichte eingeht.

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