Direkte Zugangshürden im Fördersystem
Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) aus 2024 zeigt, dass 42% der antragsberechtigten Personen (2,23 Millionen) innerhalb eines Jahres mindestens eine förderfähige Leistung nicht in Anspruch nehmen. Hauptgründe sind:
- Komplexe Antragsverfahren: 58% der Befragten empfinden den Prozess als überfordernd.
- Fragmentierte Zuständigkeiten: Durchschnittlich 3,2 verschiedene Behördenkontakte pro Leistungsantrag.
- Informationsdefizite: 63% kennen nicht alle ihnen zustehenden Ansprüche (Universität Heidelberg 2024).
Das Paradox der Ausgleichsabgabe
Die Ausgleichsabgabe, die Unternehmen bei Nichterfüllung der Beschäftigungspflicht zahlen müssen, erreichte 2023 ein Volumen von 1,4 Milliarden Euro. Davon flossen jedoch nur 680 Millionen Euro in Integrationsmaßnahmen zurück. Diese Diskrepanz von 720 Millionen Euro entspricht rechnerisch der Unterversorgung von 72.000 Personen bei einem durchschnittlichen Förderbetrag von 10.000 Euro pro Kopf/Jahr. Die Mittelbindungsproblematik verdeutlicht strukturelle Ineffizienzen im Verteilungssystem.
Quantifizierung der Förderlücken
Arbeitsmarktintegration
- Beschäftigungsquote: Nur 39% der Unternehmen erfüllen die 5%-Quote für Schwerbehinderte.
- Arbeitslosenquote: 12,8% bei Schwerbehinderten vs. 5,2% Gesamtquote (Bundesagentur für Arbeit 2024).
- Eingliederungszuschüsse: Trotz 70%iger Förderhöhe wurden 2023 nur 23.400 von 45.000 potenziell förderfähigen Stellen realisiert.
Barrierefreiheit im privaten Bereich
Das Fördervolumen für Wohnraumanpassungen belief sich 2023 auf 890 Millionen Euro, wobei der Bedarf laut KfW-Studie bei 2,1 Milliarden Euro liegt. Diese Lücke von 1,21 Milliarden Euro betrifft etwa 121.000 Haushalte.
Regionale Disparitäten am Beispiel Schleswig-Holstein
Der „Fonds für Barrierefreiheit“ vergab 2024 43 Millionen Euro für 1.150 Projekte. Bei 8.500 antragsberechtigten Einrichtungen ergibt sich eine Versorgungslücke von 86%. Hochgerechnet auf Bundesebene fehlen damit jährlich Mittel für etwa 258.000 bauliche Anpassungsprojekte.
Ausbildungssupport
Das „Budget für Ausbildung“ erreichte 2023 18.900 Geförderte, während 34.700 Auszubildende mit Behinderung keine entsprechende Unterstützung erhielten (Bundesagentur für Arbeit 2024). Dies entspricht einer Unterversorgungsquote von 64,7%.
Synthese der Gesamtbelastung
Unter Berücksichtigung aller Leistungsbereiche ergibt sich folgendes Bild:
- Arbeitsmarkt: 210.000 Personen ohne adäquate Förderung.
- Wohnumfeld: 121.000 Haushalte ohne notwendige Anpassungen.
- Bildung: 34.700 Auszubildende ohne Unterstützungsleistungen.
- Mobilität: 89.000 Personen ohne Kraftfahrzeughilfe.
- Alltagshilfen: 310.000 Menschen ohne notwendige Assistenz.
Die Summe von 764.700 jährlich nicht bedienten Fällen verdeutlicht die systemische Unterversorgung. Hochrechnungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) kommen sogar auf 1,2 Millionen Betroffene, wenn man Mehrfachbedarfe und nicht-antragsgestellte Leistungen berücksichtigt.
Strukturelle Ursachenanalyse
Administrative Fragmentierung
Das Nebeneinander von 137 Einzelleistungen über 15 verschiedene Kostenträger führt zu Reibungsverlusten. Ein durchschnittlicher Antrag durchläuft 4,7 Bearbeitungsschritte bei 2,3 verschiedenen Behörden.
Zeitliche Verzögerungen
Die Bearbeitungsdauer von 6,2 Monaten für Arbeitsassistenzanträge übersteigt die gesetzliche Frist um das Vierfache. 23% der Antragstellenden brechen das Verfahren wegen der langen Wartezeiten ab.
Informationsasymmetrien
Trotz des Portals „amtlich einfach“ kennen 63% der Leistungsberechtigten nicht ihre vollen Ansprüche. Nur 28% der Jobcenter-Mitarbeitenden erhalten regelmäßige Schulungen zu Behindertenförderung.
Finanzielle Fehlsteuerung
Die Rückführung nicht verausgabter Mittel (420 Millionen Euro 2023) bei gleichzeitigem Bedarfsanstieg (18% bei Assistenzleistungen) zeigt systemimmanente Zielkonflikte.
Europäische Vergleichsperspektiven
Länder wie Schweden (92% digitale Antragsabwicklung) oder Österreich (Chancenpass-System) demonstrieren, dass vereinfachte Verfahren die Unterversorgung signifikant reduzieren können. Das österreichische Modell erreicht eine 28% höhere Ausschöpfungsquote bei vergleichbarem Finanzvolumen.
Fazit
Zwischen 764.700 und 1,2 Millionen Menschen mit Behinderungen bleiben in Deutschland jährlich ohne notwendige Fördermittel – nicht wegen fehlender Ressourcen, sondern aufgrund struktureller Systemdefizite. Die Lösung liegt in der radikalen Vereinfachung der Antragsverfahren, der Bündelung der Zuständigkeiten und einer proaktiven Informationspolitik. Bis diese Reformen umgesetzt sind, bleibt die Unterversorgung ein skandalöser Dauerzustand deutscher Sozialpolitik.